Unser Proviantboot Von Männi Lagler Proviantboot DICKE NET Aller Anfang ist schwer, das hat auch mein Bruder David erfahren. 1949 hat er sich entschlossen, im Basler Hafen einen Proviant Betrieb aufzubauen. Ein Proviantboot ist ein schwimmendes Lebensmittelgeschäft; es führt Waren aller Art mit sich, fährt von Schiff zu Schiff und bietet die Ware zum Verkauf an. Damals gab es an vielen Orten am Rhein und seinen Nebenflüssen, solche Boote. Im Basler Hafen herrschte zu dieser Zeit reger Schiffsverkehr. Von der Schleuse Hüningen (Die letzte Schleuse des Rhein-Rhone Kanals, heute Wassersport Zentrum) kamen täglich bis zu 30 Kanalschiffe nach Basel. Auf dem Rhein waren die Ankünfte von Motor- und Schleppschiffen sehr zahlreich. Mit den vielen Schiffsbesatzungen versprach ein Proviantboot ein gutes Geschäft zu werden. Irgendwo am Rhein hatte David ein altes Proviantboot mit einem Junkers Motor gekauft. Von der Firma BRAG wurde ein alter Ponton erstanden und eine Holzhütte darauf montiert; das war fortan das Vorratslager. Der Junkers Motor gab leider schon nach kurzer Zeit den Geist auf. Ersatzteile gab es nicht. Diese mussten Stückweise angefertigt werden. Um den Schaden möglichst klein zu halten, lieh mein Bruder von einem Lagerschiff einen Nachen (Ruderboot) um mit diesem von Schiff zu Schiff, seine Ware anzubieten. Das war ein harter Job. Als der Junkers Motor repariert war, tuckerte David mit seiner Proviantboot „René“ (getauft nach seinem Sohn René) im ganzen Hafengebiet herum. Proviantboot RENÉ Dank einer treuen, vorwiegend ausländischen Kundschaft, lief das Geschäft glänzend. Das war auch der Grund, weshalb er nach drei Jahren ein zweits, grösseres Boot in Königswinter bauen liess. Ein schönes Boot mit einem Deutz Diesel Motor, 11 x 3 Meter. Das Boot wurde auf den Namen "Dicke Net" getauft - (Dicke Net eine stattliche Dame die in Antwerpen wohnte, war eine Schwägerin von David). Nun musste auch ein zweiter Mann her. Mein Bruder Karl hatte damals keinen interessanten Job, er war Lagerschiffer im Basler Hafen. Karl war aber der richtige Mann für die Boot René. Ich war damals als Lotse auf der Strecke Birsfelden-Strassburg tätig und hatte eine harte, aber auch interessante Arbeit. Die beiden Boote „René“ und „Dicke Net“ machten täglich mit Erfolg ihre Touren. Am St. Nikolaus Tag gab es für alle Kinder ein extra Päckli, überreicht durch mich als Nikolaus verkleidet. (Für diesen besonderen Tag machte ich mich bei der Reederei frei und wurde natürlich dafür gehänselt). Im Restaurant „Schifferhaus“, wohin uns David Ende 1955 eingeladen hatte, eröffnete er uns kurzerhand, er beabsichtige, mit seiner Frau Jeanne und seinem Sohn René in die USA auszuwandern, und er möchte den Proviant-Betrieb an meinen Bruder Karl und mich übergeben. Ich habe nach 17 Dienstjahren bei der Schweizerischen Reederei auf Mitte 1955 gekündigt und wurde nun bis Ende 1955, zusammen mit Karl, bei David angestellt. (Leider hat er die AHV-Beiträge vergessen zu bezahlen, eine Tatsache, die ich nun, jeden Monat bei der AHV-Rente zu spüren bekomme). Bis Ende 1955 schafften es Karl und ich irgendwie, das nötige Kapital zusammen zu bringen und so konnte die Übernahme am 1. Januar 1956 stattfinden. “Gebrüder Lagler im Wendebecken Basel 19" so lautete nun unsere neue Adresse. Unsere Arbeitseinteilung war, dass abwechslungsweise eine Woche Karl mit dem grossen und ich mit dem kleinen Boot Dienst machten. Dienst mit dem grossen Boot hiess zugleich, dass derjenige am Morgen für den Einkauf von Frischgemüse in der Markthalle zuständig war. Ende Januar 1956 war es sehr kalt. Jeden Morgen lag eine Schicht Eis auf dem Wasser und täglich wurde es dicker. Mitte Februar ging nichts mehr, täglich mussten wir die Boote mit einer Säge frei machen. Das war eine böse Zeit: ein Schuldenberg und keine Einnahmen! Ende März konnten wir wieder normal fahren; erst auf Strom (auf dem Rhein) später auch im Hafen. Die Krise war überstanden. Zum Glück hatten wir eine treue Kundschaft. Die zweite, noch rabiatere Eiszeit anfangs 1963 konnte uns zum Glück nicht mehr viel anhaben. Das Eis staute sich von der Schleuse Kembs bis zur Johanniter Brücke. Beim Drei-Länder-Eck konnte man zu Fuss nach Hüningen laufen. Am 1. Januar 1966 ist mein Bruder Karl aus dem Betrieb ausgeschieden und fortan war ich mit meiner tüchtigen Lilly alleine. Unser Tagesablauf war eigentlich monoton. Tagwache war meistens um 5 Uhr. Etwa 10 vor 6 Uhr stand ich bereits in der Markthalle; wo ab 6 Uhr eingekauft werden durfte. Um ca. 7.15 war ich wieder im Hafen. Meistens wartete schon der Bäcker auf mich. Nun musste ein Teil der Ware ausgewogen und verpackt werden. Kurz vor acht war auch der Metzger mit seinem Motorrad da. Er fuhr täglich von Binningen via Schlachthaus (Fleischwaren von Basel-Land durften ohne Kontrolle in Basel-Stadt nicht verkauft werden) zu uns in den Rheinhafen und lieferte seine beliebten Klöpfer ab (Cervelats). Die tägliche Fahrt war für ihn sicher umständlich, doch seine Klöpfer waren eben die besten und davon wird noch heute geredet. Gegen 8 Uhr konnte ich dann mit meinem Boot losfahren. An der Decke neben meinem kleinen Steuerstuhl hing die Glocke, mit der ich die Kundschaft auf mich aufmerksam machte. Lilly ist meistens mit mir aufgestanden und hat den Haushalt besorgt, um 8.30 Uhr fuhr sie mit dem Velo zur Post, denn pünktlich um 9.00 Uhr fuhr der Bierwagen mit seiner Lieferung vor. Lilly musste den Ponton (Lager) aufschliessen; die Brauer sorgten für Nachschub. Lilly machte bei den verschiedenen, regelmässig besuchenden Vertretern Bestellungen. Auch der ganze Papier- und Rechnungskram erledigte sie. Mit dem Zoll hatten wir anfänglich unsere liebe Mühe. Am Samstag musste für die kommende Woche sämtliche Ware im Voraus als Ausfuhr deklariert werden. Wenn eine Lieferung kam, musste Lilly erst den Zoll benachrichtigen. Die Ware wurde dann auf der Liste abgehakt und erst jetzt durfte abgeladen werden. Lilly's Ehrgeiz war, die Rechnungen so zu bezahlen, dass sie immer Skonto abziehen konnte. Für uns war das ein finanzieller Vorteil und bei den Lieferanten waren wir als prompte Zahler bekannt. Im Hafengebiet gab es viel Staub und folglich viel Reinigungsarbeit. Niemand kannte das besser als Lilly. Wenn ich mit dem Boot zurückkam, mussten die fehlenden Artikel ersetzt werden. Getränke, Büchsen und Kartoffeln, das fiel schwer ins Gewicht. Unser Sortiment umfasste etwa 1500 Artikel wie Lebensmittel, Souvenirs und Uhren. Alles musste auf kleinstem Raum Platz finden. Wenn ich wegen Krankheit, Militärdienst oder einem anderen Grund nicht fahren konnte, hat einer meiner Freunde mich abgelöst. Hans, Hugo, Max oder Sepp, alles ehemalige Schiffsführer und damals Schleusenwärter in Birsfelden, jeweils einer von ihnen fuhr das Boot und Lilly war die Verkäuferin. Für meine Frau war das natürlich eine grosse zusätzliche Belastung, denn die andere Arbeit musste auch getan werden. Einmal kam Irene, meine Schwägerin, auf Besuch. Sie fand ihren Spass daran, wenn sie das Boot so richtig vollstopfen konnte. Am nächsten Morgen, im Hafen war schon eine dünne Eisschicht fuhr ich auf Strom. Am Klybeck lag ein Benzinschiff. Ich wollte anlegen, doch der Schiffmann winkte mir ganz aufgeregt ab. Er hatte vermutlich Angst, weil er am Benzin löschen (leer pumpen) war und mein Motor keinen Funkenfänger hatte. Ich habe mich nicht weiter um ihn gekümmert und wollte nach Steuerbord Richtung Hafen St. Johann fahren, ohne mich zu vergewissern, ob Bergfahrt kam. Plötzlich sah ich mich genau vor dem Bug eines Bergfahrers. Es gab nur einen Weg aus dieser Situation heraus zu kommen: Ich musste versuchen, das Boot um den Steven (vorderster Punkt vom Schiff) herum zu manövrieren. Beinahe wäre es mir gelungen, ich war schon fast um den Steven herum, als mich das Stb. Klippanker bei mir im hinteren Drittel der Boot erwischte und mich für einen kurzen Moment ca. 30 cm unter meinen Freibord (Abstand zwischen Oberdeck und Wasserspiegel) Linie drückte. Ein riesiger Schwall Wasser kam in das Boot. Meine Gedanken überstürzten sich: nur ruhig bleiben bis ich Grund-Berührung habe, dann erst versuchen nach oben zu kommen. Zum Glück blieb es bei dem einen Wasserschwall und ich konnte, allerdings mit schwerer Schlagseite (Schräglage), zu Tal Richtung Hafen Kleinhüningen fahren. Wie ich zu meinem Liegeplatz zurück kam, weiss ich nicht mehr. Ich machte das Boot fest, war aber nicht fähig die vier Tritte nach oben zu machen. Lilly hat mir dabei geholfen. Den Hergang konnte ich ihr nicht genau schildern. Als ich später wieder in das Boot ging, fand ich ein Chaos vor. Alles lag am Boden zerstreut, zwei Fenster waren kaputt, die Auslagen in den Fenstern waren über Bord geflogen. Die Schuldfrage war klar: ich hatte nicht aufgepasst und hätte tot sein können. Die Unkostenseite für dieses Abenteuer war immens. In den Anfangsjahren unserer Proviantboot-Zeit waren die Schiffe noch sehr viel kleiner wie heute. Auf jedem Fahrzeug war mindestens eine Familie, bei vielen Kanalschiffen war es üblich, dass die Frau (Kanalschiffe, meist mit ca. 300 Tonnen Tragfähigkeit) des Schiffmanns als Matrose tätig war. Für diese Frauen war es natürlich sehr viel einfacher beim Proviantboot, anstatt an Land einzukaufen, denn wir konnten die Kundschaft praktisch vor der Haustüre bedienen. Der Liegeplatz der Schiffe war oft sehr beschwerlich zu erreichen, ein weiteres plus für uns und wurde sehr geschätzt. Auf den Rheinmotor- und Schleppschiffen waren in der Regel zwei Familien, plus ein „Schmelzer“ (Schiffsjunge) mit an Bord, die Fahrzeuge zwischen 700 und 1300 Tonnen Gross, auch bei denen war der Liegeplatz nicht ungefährlicher zu erreichen. Dass wir uns mit der Kundschaft in ihrer eigenen Sprache unterhalten konnten, wurde sehr geschätzt und somit ein weiterer Vorteil unsererseits. Es gab natürlich auch Diebstähle, allerdings sehr selten, meistens waren es Kleinigkeiten. Oft kamen Kunden mit einer Hand voller Münzen aus allen Rheinufer-Staaten, und sagten: "Gib mir etwas dafür" Das war nicht immer einfach. Die verschiedenen Kurse hatte ich zwar im Kopf, aber die schönen, kleinen Rechenmaschinen von heute, die fehlten damals. Wir nahmen alle uns bekannten Währungen entgegen und wechselten auch Geld um. Fast täglich musste ich zwischendurch mit dem Moped schnell zur Bank, damit ich meine Kundschaft bedienen konnte. Anfangs der 60-ziger Jahren erweiterten wir unser Sortiment mit Souvenirs, später auch mit Uhren. Diese Artikel sind bei unserer Kundschaft bestens angekommen. Oft waren auf den Schiffen Passagiere auf einer Rheinreise, das waren die besten Kunden. Über die Qualität der Souvenirs kann man verschiedener Meinung sein, aber man musste sich nach der Nachfrage richten Ende der 1960-ziger Jahre, die Schiffe wurden grösser, Kanalschiffe gab es längst nicht mehr. Die Schubschiffahrt hatte die Schleppschiffahrt verdrängt, gleichzeitig wurden die Anzahl Besatzungen kleiner, ganze Familien wurden immer seltener. (bei Schleppschiffahrt werden die Schiffe gezogen, bei Schubschiffahrt gestossen, mit wesentlich weniger Besatzungsmitgliedern). 1970 wollte ich den Proviantbetrieb aufgeben, Lilly war damit gar nicht einverstanden, denn wir hatten Dank den Souvenirs immer noch ein gutes Geschäft, so kam es, dass wir noch zwei Jahre weiter machten. Am 28. April 1972 bin ich das letzte Mal mit dem Proviantboot losgefahren. Beide Boote habe ich danach nach Holland verkauft. Lilly und ich waren mit unserer Arbeit voll ausgelastet. Heute glauben wir, dass unsere beiden Töchter Vreny und Ursi etwas zu kurz kamen. Dennoch haben wir ein sehr gutes Familienverhältnis. So wie ich erst später erfahren habe, hätte ich das Proviantboot gar nicht fahren dürfen, weil ich nur ein Patent für Gross- und nicht für Kleinschiffahrt besass. Im Oktober 2001, Männi Lagler (11. 05. 2014 †) |